Wo ist Kirche lebenswirklich? Wann sind wir lebenswirklich?

Es war ein spannender Abend. Bestimmt 100 Menschen hatten am Mittwoch sich im Saal von St. Gregorius versammelt, um Dr. Christian Hennecke, Regens des Priesterseminars im Bistum Hildesheim, zu hören. Er sprach zum Thema „Wie lebt Kirche morgen? Kirche zwischen Vision und Wirklichkeit“.

Die Analyse zu Beginn deckt sich mit unseren Wahrnehmungen: Wuchsen früher die Menschen durch Geburt und Sozialisation in die Kirche hinein und waren ganz natürlich mit den Riten und Gebräuchen vertraut, so ist das heute nicht mehr der Fall. Hennecke beobachtet stattdessen zwei Typen: Die Pilger und die Konvertiten. Pilger sind Menschen auf dem Weg, die mit hoher Konsequenz und Verbindlichkeit ihre Spiritualität suchen, ohne sich allerdings an eine klassische Gemeinde binden zu wollen – sie sind ja unterwegs.

Als Konvertiten bezeichnet er jene, die erst im erwachsenen Alter den Glauben für sich entdecken und in ihrer oftmals charismatisch orientierten Spiritualität und Begeisterung von den klassisch Sozialisierten als zu anstrengend und zu fremd empfunden werden. Umgekehrt können die Konvertiten den klassischen Gemeinden und den dort gelebten Formen der Spiritualität wenig abgewinnen.

Hennecke berichtete anhand vieler Beispiele von neuen Ansätzen, dem Wandel zu begegnen und ihn zu gestalten. In Poitiers hat der dortige Bischof beispielsweise auf die wachsende Problematik – weniger Priester, weniger Geld – unkonventionell reagiert. Hierzulande werden die Pfarrgebiete immer größer. Damit wächst die Belastung der pastoralen Mitarbeiter/innen und trotz deren Bemühen, alles weiterhin aufrechtzuerhalten, bleibt die Enttäuschung, dass es nicht mehr so ist wie früher.

Poitiers Bischof verfolgte den umgekehrten Ansatz. Er stellte sich und den Katholiken seiner Diözese die Frage: Wie kann man die Menschen befähigen, Kirche vor Ort zu sein? Über zwei Synoden wurde die Abkehr von pastoralen Großgebilden beschlossen, stattdessen wurden die Menschen vor Ort gefördert, befähigt und gestützt, selber Gemeinden zu bilden und sie missionarisch weiterzuentwickeln.

Zur Errichtung einer lokalen Gemeinde braucht es fünf Personen, die Verantwortung übernehmen. Ein solches Team führt die Gemeinde maximal sechs Jahre, danach muss es Nachfolger gefunden haben. So ist es in Poitiers gelungen, die Berufung zum allgemeinen Priestertum eines jeden Getauften, ernstzunehmen, zu fördern und strukturell zu verankern. Klar, dass die Vielzahl der Gemeinden auch eine große Vielfalt von Ansätzen und spirituellen Formen mit sich bringt. Hier warb Hennecke dafür, die Vielfalt wertzuschätzen (und manchmal auch schlicht auszuhalten).

Auch Henneckes Erfahrungen mit der amerikanischen katholischen Kirche knüpft an den Gedanken der Berufung aller – an den Ruf und die Gabe, die alle haben – an. Kirche ist nicht Sache der Priester oder pastoralen Mitarbeiter, sondern Sache aller Gläubigen.

Die dortigen kleinen Gemeinschaften sind anspruchsvoll. In ihnen geht es immer wieder darum, den Glauben miteinander zu teilen. So berichtet Hennecke von Sitzungen, die einen ganz besonderen Charakter schon dadurch erhalten, dass zunächst ein Austausch zu einer „Frage der Woche“ stattfindet. Wo die eigenen Erfahrungen mit dem Glauben und zu persönlichen Fragen miteinander geteilt werden. Außerdem spielt die gelebte Kultur der Gastfreundschaft eine große Rolle, in der es darum geht, einander wertzuschätzen und die Gabe des anderen zu erkennen.

Die anglikanische Kirche hat – auch getrieben durch finanzielle Probleme – einen kreativen Ansatz verfolgt. Sie hat sehr erfolgreich Glaubenskurse für Erwachsene angeboten. Die Teilnehmenden schlossen sich aber anschließend nicht den bestehenden Gemeinden an, sondern bildeten neue. Des Weiteren hat die anglikanische Kirche beschlossen, nicht zu warten, bis jemand zu ihr kommt, sondern dorthin zu gehen, wo die Menschen sind, um mit ihnen Kirche zu bilden (u.a. als Skaterkirche und Kirche in einem Pub).

Hennecke ermunterte die Anwesenden, vor Ort zu schauen, was die Menschen brauchen. Sich selbst als Dienende zu begreifen und die Wünsche und Anliegen vor der eigenen Haustür wahrzunehmen. Die Gemeinde soll die Chance wahrnehmen, sich eine Aufgabe zu suchen und für die Menschen am Ort zu handeln.

In diesem Kontext berichtete er von einer Stadt, an dem es zwei traditionsreiche Sozialverbände gab – KAB (Katholische Arbeitnehmer-Bewegung) und Kolping. Und während der eine im Sterben begriffen war, verzeichnete der andere stetes Wachstum. Ursächlich für die auseinanderklaffende Entwicklung war, dass sich der eine Verband zur Aufgabe gemacht hatte, dass jeder Hauptschüler am Ort einen Ausbildungsplatz erhalten solle. Dafür war es nötig, mit vielen relevanten gesellschaftlichen Gruppen und Persönlichkeiten in Kontakt zu treten. Diese Vernetzung führte zu einer wachsenden Aufmerksamkeit für die Sache, aber auch zum Wachstum des Verbandes. Der andere Verband hingegen hatte sich nur eine Aufgabe vorgenommen: Mehr Mitglieder zu gewinnen.

Natürlich habe ich während des Vortrags nicht nur interessiert zugehört, sondern parallel auch oft gedacht, was das für Zeitfenster bedeuten mag, was wir lernen können und in welcher Richtung wir uns weiterentwickeln können.

Mir erscheinen zwei Punkte wesentlich: Einerseits halte ich es für sinnvoll und bereichernd, näher zusammenzurücken. Die Vorstellung, die Gaben und den Reichtum des anderen zu erkennen, hat etwas sehr Reizvolles. Es ist spannend, den Glauben in unserer je eigenen Lebenswirklichkeit zu reflektieren. Voraussetzung dafür ist, dass wir uns öfter sehen und es nicht bei einem vierwöchigen Rhythmus belassen. Sicher in einer anderen Form, die auch das Sonntags-Zeitfenster nicht ersetzen soll und kann. Darüber möchte ich weiter nachdenken und bald einen Vorschlag unterbreiten.

Andererseits bin ich gestärkt in der Auffassung, dass Zeitfenster eine Aufgabe braucht. Ein Ziel, das inhaltlich richtig und wichtig ist. Und das eine Öffnung hin zu anderen Suchenden mit sich bringt, die vielleicht Lust bekommen, mit uns weiterzusuchen.

 

  1 comment for “Wo ist Kirche lebenswirklich? Wann sind wir lebenswirklich?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert